Wie wird Abhängigkeit in anderen Ländern gesehen? Ist es ein Fehlverhalten, Willenlosigkeit oder Krankheit, die behandelt werden muss. Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es überhaupt?
Wir beginnen eine neue Serie mit einem Beitrag von Bodo Walther, Diakon und Sozialtherapeut i. R., der auch heute noch in das Behandlungsangebot der japanischen Evangelisch-Lutherischen Kirche einbezogen ist und deshalb mehrere Wochen im Jahr dort verbringt.
Vergleichen lässt sich die ambulante und stationäre Hilfe für suchtkranke Menschen in Japan und Deutschland nur begrenzt. Die gesellschaftlichen „Voraussetzungen“ die Suchtgenese begünstigen, unterschieden sich jedoch so gut wie gar nicht. Der Anteil jener Personen, die Drogenmissbrauch praktizieren, davon abhängig geworden behandlungsbedürftig sind, im Vergleich zu Deutschland sehr gering. Als Inselstaat ist der japanische Zoll sehr streng. Das Kontrollsystem wird sehr konsequent gehandhabt. Selbst berühmte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens (Film, TV, Politik usw.) können keinesfalls mit einem Augenzwingern rechnen. Eher brächte die Missachtung des Kontrollsystems die schonungslose Offenlegung sowie den gefürchteten „Gesichtsverlusts“ mit sich.
Vorrangig ist in Japan Alkohol das gesellschaftliche „Schmiermittel“, wie bei uns in Deutschland. Sake, der japanische Reiswein könnte da eine große Konsumrolle darstellen. Das ist es aber nicht so, sondern Bier oder Whisky oder andere Schnapssorten werden bevorzugt konsumiert. Trinken geschieht überwiegend in Gruppen, z.B. geht die Kollegengruppe eines Betriebes nach der Arbeit gemeinsam zum Abendessen. Hierbei wird dann auch viel Alkohol konsumiert. Menschen, die durch den zunehmenden Alkoholkonsum irgendwann aus dem sozialen Sicherheitsgeflecht von Familie und Arbeitsplatz oder aus anderen stabilen Gruppenformationen herausfallen, können in das bisherige vertraute Sozialsystem nicht mehr zurück.
Suchtkranke und ihre Angehörigen haben in der japanischen Gesellschaft eher einen schweren Stand. Rehabilitation ist noch kein Standardprogramm wie bei uns in Deutschland.
Als problematisch ist der enorm hohe Medikamentenkonsum einzuschätzen. Medikamente können wie bei uns frei verkäuflich beschafft werden. Gravierender ist aber die sogenannte „doppelte Abhängigkeitsentwicklung“, denn die behandelnden Ärzte verordnen und geben sie ambulant oder stationär aus. Medikamente sind also allgegenwärtig, was sich auch in der stetig ansteigenden Anzahl von Apotheken im Vergleich zu früheren Jahren zeigt.
In Japan gibt es ambulante und stationäre Beratungs- und Behandlungshilfen für Sucht-kranke. Die ambulante Beratung wird durch Gesundheitsämter geleistet, die stationäre Hilfe ist überwiegend in privater Hand. Sie arbeitet noch oft nach dem bei uns lange überwundenen, alten psychiatrischen „Einsperrsystem“. Ganz vereinzelt gibt es Kliniken, die sich durch englische Fachliteratur über das deutsche mehrstufige Rehabilitationssystem neu orientieren. Aber das streckt noch in den Kinderschuhen.
Das ambulante Hilfesystem für Menschen, die Überwindung der Suchtkrankheit zur Neuorientierung nutzen möchten. Nur ganz selten können sie fachspezifisch-therapeutische Behandlungsanbieter aufsuchen. Das ist zudem teuer, da die Krankenkassen die Finanzierung eher dem Einzelnen überlassen.
Daher schätze ich Japan auf dem Arbeitsfeld der Suchthilfe immer noch als noch Entwicklungsland ein. Es haben sich erfreulicherweise auch Selbsthilfegruppen etabliert, nach dem Vorbild der anonymen Alkoholkranken arbeiten und die auch für Angehörige offen sind.
In Osaka-Kamagasaki, einem Stadtquartier für Tagelöhner, gibt es ein seit 1973 das Beratungs- und Behandlungsangebot Diaconia-Center „Kibo no ie“ (Haus der Freude und Hoffnung). Es wurde von der deutschen Missionarin Elisabeth Strohm initiiert und wird von der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig seitdem finanziell unterstützt. Die Japanische Evangelisch-Lutherische Kirche verantwortet seit 1992 dieses Arbeit und wünschte sich den Austausch zwischen Fachleuten in der Suchthilfe. So war ich (Autor des Artikels) als Diakon und Sozialtherapeut von 1983 bis 1992 in das „Kibo no ie“ entsandt.
Ein besonderer Schwerpunkt meiner Arbeit war der Aufbau eines Teams, bestehend aus japanischen Mitarbeitern und freiwilligen Helfern. Ein Japaner wurde in diesem Zusammenhang auch nach Deutschland eingeladen und absolvierte hier die mehrjährige Ausbildung zum Sozialtherapeuten (systemisch-orientiert). Er leitet seitdem die Arbeit des Diaconia-Centers in eigener Verantwortung. Meine Aufgabe ist es, auch im Ruhestand durch regelmäßige mehrwöchige Mitarbeit im „Kibo no ie“ dieses Angebot fachlich zu begleiten.
An diesem Beispiel wird deutlich: Kirche und Diakonie ist konkret aktiv für suchtkranke Hilfesuchende und ihrer Angehörigen. Sie übernimmt damit eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Diese wird aber durch die japanische Gesellschaft nicht unterstützt beziehungsweise nicht gefördert.
Bodo Walther
Veröffentlicht in:
Freundeskreis Journal Heft 2/2018, 33. Jahrgang, Seite 30/31; Zeitschrift der Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe – Bundesverband e. V. (Hg.), Kassel.